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Der Vorsatz Gottes

von T. Austin-Sparks

Zuerst veröffentlicht in den Zeitschriften "A Witness and A Testimony", Mär-Apr 1943, Vol. 21-2. Originaltitel: "The Purpose of God". (Übersetzt von Manfred Haller)

Es ist bei der Betrachtung der vielfältigen Aktivitäten und Energien Gottes eine immense Hilfe, wenn es uns gelingen könnte, alles in einem inklusiven, umfassenden und konkreten Gesichtspunkt zusammen zu sehen. Die Bibel umspannt, von der Genesis bis zur Offenbarung ein weites Gebiet und umfasst eine grosse Menge von Gegenständen, doch hat sie ein alles beherrschendes und schlüssiges Ziel. Es gibt einen klaren Vorsatz Gottes, und es gibt nur diesen einen. Stets wird in der Einzahl auf ihn Bezug genommen. «Nach seinem Vorsatz berufen» (Röm. 8,28); «nach dem Vorsatz...» (Eph. 3,11); «nach seinem eigenen Vorsatz» (2. Tim. 1,9). Es sind nicht eine unterschiedliche Anzahl von Dingen; es ist ein einziger Vorsatz.

Und worin besteht dieser eine, einzige, umfassende Vorsatz? Die Antwort lautet: Christus! «Sein Sohn, Jesus Christus». Und wenn wir weiter fragen: «Was ist mit diesem Sohn?», heisst die Antwort: «Er soll alle Dinge erfüllen und alle Dinge in sich schliessen. Dass dem so ist, wird durch die entschiedenen Aussagen der Schrift deutlich: «Denn in Ihm ist alles in den Himmeln und auf der Erde geschaffen worden, das Sichtbare und das Unsichtbare... alles ist durch Ihn und zu Ihm hin geschaffen».

«Denn es gefiel der ganzen Fülle, in Ihm zu wohnen» (Kol. 1,16.19). «Den Er zum Erben aller Dinge eingesetzt hat, durch den Er auch die Welten (die Zeitalter) gemacht hat» (Hebr. 1,2).

So müssen denn, im Ratschluss Gottes, alle Dinge in Christus als dem Haupt zusammengefasst werden. Gott ist damit beschäftigt, Christus (in die Dinge) einzubringen und (die Dinge) in Christus hineinzubringen. Wenn wir wirklich «Gottes Mitarbeiter» sein möchten, muss dies auch unser einfältiges Ziel und unsere Beschäftigung sein. Das definiert präzise den Vorsatz der Gemeinde.

Die Gegenwart der Gemeinde in dieser Welt besteht erstens darin, hier ein gemeinschaftlicher Ausdruck von Christus zu sein. Schon allein die Bezeichnung «der Leib Christi» bedeutet: Christus gemeinschaftlich gegenwärtig. Die Gemeinde ist keine Institution, Organisation, Gesellschaft oder religiöse Bruderschaft. Sie ist – der Absicht Gottes entsprechend – die Verkörperung Seines Sohnes und damit die Fortsetzung Seines Lebens und Werkes auf dieser Erde. An zweiter Stelle, also nach dem, was sie ihrem Wesen nach ist, kommt ihr Werk. Das ist ein und dasselbe, und durch das eine Ergebnis steht oder fällt ihr Werk. Dieses Werk soll für eine Zunahme von Christus in dieser Welt sorgen, und das soll entlang zweier Linien vollbracht werden, nämlich durch die Verkündigung des Evangeliums und durch Aufbauen.

Die Verkündigung des Evangeliums bringt Christus ursprünglich in Menschenleben hinein. Bei jedem neuen Fall, wo Christus in ein Leben hinein kommt, handelt es sich um ein zusätzliches Mass von Christus in dieser Schöpfung, und so entsteht eine neue Schöpfung. Es ist von höchster Dringlichkeit, dass es nie bei einer blossen mentalen Zustimmung, einem emotionalen Eindruck, oder einem bloss äusserlichen Akt der Akzeptanz bleiben darf, sondern Christus soll durch Seinen Geist wirklich im Innern Wohung nehmen. Aber es ist nicht unsere Absicht, die Verkündigung des Evangeliums zu behandeln; vielmehr wollen wir ihr Ziel aufzeigen: nämlich Christus in die Dinge hinein zu bringen und die Dinge in Christus hinein.

Der andere Zweck der Gemeinde ist das Aufbauen. In den bekanntesten Ausgaben des Neuen Testamentes wird diesbezüglich das Wort «Erbauung» verwendet. Doch aufbauen ist viel besser. Die Gemeinde soll «sich selbst aufbauen. Wir sollen «uns gegenseitig aufbauen». Geistliche Gaben und Dienste wurden nur gegeben, um aufzubauen. Was aber bedeutet dieses «Aufbauen»? Es ist die Zunahme Christi. Das Neue Testament spricht wiederholt von «Säuglingen in Christus» und von «erwachsenen Menschen» in Christus; und es besteht auch ein ständiges Drängen, «zum vollen Mannesalter» voranzuschreiten. Also, durch Extensivierung und Intensivierung, durch äusserliche und innerliche Zunahme soll Christus einen immer grösseren Platz einnehmen. Wir wiederholen: durch verschiedene Wege und Mittel wird Gott von diesem einen, alles dominierenden Gegenstand beherrscht – von Seinem Sohn.

Aber da gibt es einen Punkt, der unbedingt stark betont und im Auge behalten werden muss. Diese beiden Dinge, die Verkündigung des Evangeliums und das Aufbauen sind nicht zwei verschiedene Dinge; sie müssen zusammen gesehen werden. Werden sie auseinander genommen, oder erhält das eine ein grösseres Gewicht als das andere, entsteht ein unausgeglichener Zustand, und das wird Gottes eigentliches Ziel verhindern. Wird der Verkündigung des Evangeliums mehr Platz eingeräumt als dem Aufbau, oder unter Ausschluss des andern, dann ist das Ergebnis eine grosse Zahl von geistlichen Säuglingen, die so bleiben, ganz gleich, wie lange sie leben mögen. Dann existiert eine überwiegende Zahl von Christen, die denen gleichen, von denen der Verfasser des Hebräerbriefes spricht: «Denn während ihr der Zeit nach Lehrer sein solltet, habt ihr wieder nötig, dass man euch lehre, was die Anfangsgründe der Aussprüche Gottes sind; und ihr seid solche geworden, die Milch nötig haben, und nicht feste Speise» (Hebr. 5,12). Dadurch, und durch das, was unmittelbar darauf folgt, macht der Apostel hinreichend deutlich, dass Gott nie damit zufrieden gestellt werden kann, dass er einfach noch so viele «Bekehrte», wiedergeborene Babies, bekommt. Sein Ziel fordert vielmehr, dass diese eine geistliche Stellung erreichen, dass sie alles aufnehmen können, was Er an geistlicher fester Speise zu geben hat, und dass sie geistlich geübte Sinne haben, indem sie «im Worte erfahren[1]» sind und ein geistliches Unterscheidungsvermögen besitzen. All dies bedeutet dasjenige, was Paulus «das Mass Christi» nannte, und das Ziel, das er im Visier hatte: «bis zum vollen Mass der Fülle Christi».

Andererseits wiederum: Wird dem Aufbauen gegenüber der Evangeliumsverkündigung ein unverhältnismässig grosser Platz eingeräumt, haben wir eine weitere Missbildung. So entsteht eine Übergeistlichkeit, die von allem Praktischen abgekoppelt ist. Früher oder später wird die «Wahrheit» an die Stelle des Lebens treten. Das Mentale wird das wahrhaft Geistliche ausmanövrieren. Das schlimmste, was dabei herauskommen kann, ist, dass diejenigen, die es betrifft, sich in einer falschen Position befinden, die den Prüfungen des echten Lebens, des Ausdrucks von Christus, unter den Menschen und Bedingungen dieser Welt nicht standhalten kann. Denn der wirkliche Beweis für echtes, geistliches Leben liegt in seiner Fähigkeit, Christus in einer unsympathischen, verständnislosen und feindlichen Welt in Liebe, Langmut, Geduld, Sanftmut und Selbstvergessenheit zum Ausdruck zu bringen. Dies bedeutet wiederum nicht, dass sowohl die Verkündigung des Evangeliums als auch der Aufbau eingeschränkt werden sollten, doch dieses eine bedeutet es ganz bestimmt: dass zwischen den beiden eine enge Beziehung bestehen muss.

Das wird in der Tatsache schlagend deutlich, dass die Apostel des Neuen Testamentes diese beiden Dienste in einer solchen Fülle kombinierten. Sie evangelisierten gewaltig; doch was für einen immensen Dienst des Aufbaus vollbrachten sie obendrein! Wohin immer sie kamen, brachten sie Christus ein, und wo immer sie gewesen waren, brachten sie Ihn in immer zunehmender Fülle ein. Das Entscheidende ist die Kombination von beidem. In der Angelegenheit der Dienstgaben an die Gemeinde sind der Evangelist, der Pastor und der Lehrer komplementäre Dienste.

All das ist gewiss sehr offenkundig. Aber wo befinden wir uns jetzt? Wir zögern nicht, zu sagen, dass die Beziehung zwischen diesen zwei Dingen in keiner Weise zu gleichen Teilen bewahrt worden ist. Tatsache ist, dass es eine überwiegende Zahl von Christen gibt, die, auch nach vielen Jahren, noch geistliche Babies sind, traurigerweise unreif; ohne Verständnis in geistlichen Dingen; ohne Aufnahmevermögen (und auch ohne Appetit) für «starke Speise». Daraus ergibt sich, dass der Eindruck und die Wirkung Christi in dieser Welt in keinem Verhältnis steht weder zur Zeitspanne, seit der das Christentum existiert, noch zur Anzahl von Christen auf Erden. Ein paar wenige starke, gesunde und «erfahrene» Kinder Gottes zählen ein grosses Stück mehr als eine grosse Zahl von Christen, deren Reife ungehörig hinausgezögert wurde. Es bleibt daher noch sehr viel zu tun, wenn dieser unausgeglichene Zustand beseitigt und die Kinder Gottes in den Zustand und in die Postion gebracht werden sollten, die ihnen «der Zeit nach» zustünde.

Das bedeutet, dass ein echtes Bedürfnis und Erfordernis für einen «Dienst der Fülle Christi» an die Christen unserer Zeit besteht . Was die Welt am meisten benötigt, ist Christus in grösserer Fülle, und dies kann nur in der und durch die Gemeinde, sein erwähltes Gefäss, geschehen. Doch wir wiederholen: Jeder solcher Dienst darf nicht bei sich selber stehen bleiben. Er muss zu einer stärkeren, reicheren und volleren Verkündigung des Evangeliums führen. Das will heissen, dass die Christen durch ihn in eine Stellung gelangen müssen, in der sie mehr von Christus haben, etwas, das sie demonstrieren und weiter vermitteln können. Das also ist unsere Empfindung hinsichtlich der Berufung: «zur Zurüstung der Heiligen für das (damit sie imstande werden, es zu tun) das Werk des Dienstes»; wobei das Wort «Zurüstung» «vollkommen oder vollständig machen» bedeutet.

Wir fassen zusammen: Gottes Ziel ist es, Seinen Sohn in Fülle einzubringen. Dies ist der Zweck und die Natur von Wesen und Werk der Gemeinde. Die Methode ist zwiefältig: Evangeliumsverkündigung und Aufbau. Diese beiden müssen in enger Vergbindung mit einander, also komplementär, bewahrt werden, und sie müssen im Gleichgewicht gehalten werden. Dieses Gleichgewicht wurde nicht bewahrt, und es gibt deshalb viele Christi, deren geistliche Reife und Kapazität dadurch ungehörig verzögert wurde. Es besteht daher eine vollkommen unangemessene Registrierung, Wirkung und ein unangemessener Eindruck, was Christus betrifft, wenn man bedenkt, wie lange es das Christentum schon gibt und wie viele Christen es gibt. Es besteht daher das Bedürfnis nach einem Dienst, durch den Christen geholfen werden kann, die Position zu erreichen, wie Gott es für sie wünscht und beabsichtigt. Ein solcher Dienst darf sich nicht darin erschöpfen, dass Leute an Lehren als etwas in sich selbst Bestehendes Interesse finden und sich damit beschäftigen, vielmehr soll es unter den Völkern dieser Welt zu einer reicheren und volleren Repräsentation Christi kommen. Wir haben die Wahrheit missverstanden, wenn sie dazu führt, dass wir weniger Interesse für die Zunahme von Christus durch die Errettung von Sündern und die Hilfsbereitschaft der Geretteten haben. Die Wahrheit sollte uns nie auf uns selbst zurückwerfen, sondern sollte uns das Bewusstsein vermitteln, dass wir unter einer grossen Schuld andern gegenüber stehen.

Dann müssen wir auch erkennen, dass es bestimmte Dinge gibt, die für eine geistliche Entwicklung grundlegend sind. Eines davon ist die wesenhafte organische Einheit von allen, die «in Christus» sind. Kein Einzelner, auch keine Anzahl von Einzelnen, können als solche zum vollen Mannesalter in Christus gelangen; das ist nur für «den ganzen Leib» möglich. Jede Art von Trennung unter Christen ist eine Verstümmelung Christi («ist denn Christus zerteilt» bzw. zerstückelt? – 1. Kor. 1,13), und das steht dem Heiligen Geist entgegen, durch dessen Werk allein wir zur vollen Mannesreife gelangen können. Darum müssen die Gläubigen jeden schismatischen und trennenden Boden verlassen und den einen Grund von Christus einnehmen. Am Anfang entstand die Gemeinde durch die Akzeptanz der absoluten Herrschaft und Hauptesstellung Christi, und nicht bloss dadurch, dass Er der Erlöser war. «Wir verkündigen Christus Jesus als Herrn». Sein Erlösertum diente weitgehend dem Wohl des Menschen, die Herrschaft jedoch hauptsächlich Seiner Stellung. Diese Tatsache war der Grund für alle Schwierigkeiten.

Dies also ist der Dienst, von dem wir glauben, dass der Herr uns dazu berufen hat. Durch tiefe und drastische Wege hat Er ihn geformt. Wir haben ihn uns nicht angemasst, und wir können nur weitergeben, was Er gegeben hat. Wir waren stets bestrebt, vor blosser Theorie bewahrt zu werden, und wir glauben, dass der Herr gerade darin treu gewesen ist; aber es war kostspielig.

Und nun, Brüder, wie können wir zusammenfassen, was wir als unsere Last empfinden? Vielleicht auf keine bessere Weise als mit den Worten des Apostels: «Indem wir jeden Menschen lehren und jeden Menschen ermahnen, damit wir jeden Menschen vollkommen (d.h. erwachsen) in Christus darstellen».

 

[1] Vgl. Hebr. 5,13 – Elberfelder unrevidiert


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