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«Bindet ihn los und lasst ihn gehen»

von T. Austin-Sparks

Zuerst veröffentlicht in den Zeitschriften "A Witness and A Testimony", Nov-Dec 1971, Vol. 49-6 basierend auf einer gesprochenen Botschaft im März 1966. Originaltitel: "Loose Him, and Let Him Go!" (Übersetzt von Manfred Haller)

Schriftlesung: Johannes 11,38-44

Es ist dieser letzte Vers, den wir besonders betrachten möchten:

«Und der Verstorbene kam heraus, an Händen und Füßen mit Grabtüchern umwickelt und sein Angesicht mit einem Schweißtuch umhüllt. Jesus spricht zu ihnen: ihn los und lasst ihn gehen» (Joh. 11,44).

Parallel dazu möchte ich ein Fragment aus dem zehnten Kapitel setzen:

«Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es im Überfluss haben» (Joh. 10,10).

Wir haben mehr als einmal gesagt, dass wir uns hier in der Gegenwart Gottes, manifestiert im Fleisch in der Person Jesu Christi, seines Sohnes, befinden, und da wir in der Gegenwart Gottes sind, werden wir uns auch des Sinnes Gottes hinsichtlich des Menschen bewusst. Was Jesus sagt, ist der Ausdruck des Sinnes Gottes für den Menschen.

Die Fülle des Johannesevangeliums

Ich nehme an, ihr habt gelernt, dass das, was in diesem ganzen Johannesevangelium niedergeschrieben ist, mehr ist als bloß eine irdische Geschichte, oder eine Sammlung von Worten und Taten von Jesus Christus. In jedem dieser Worte und Taten, und in jedem Teil dieser Geschichte, wird auf die eine oder andere Weise eine ewige und unergründliche Wahrheit vorgebracht, weil das Ganze von Gott kommt. Gott ist unergründlich, unerforschlich, unbegreiflich, tiefgründig, jenseits unseres Verständnisses. Er besitzt eine Tiefe und eine Fülle, die nie, niemals ausgeschöpft werden kann, weder in der Zeit noch in der Ewigkeit, und alles, was von Gott ausgeht, sei es in Wort oder Tat, trägt diese Bedeutsamkeit in sich. Das ist nicht einfach menschliche Sprache. Das sind nicht bloß die Worte oder Werke eines Menschen. Jedes Fragment enthält die unergründliche Tiefe Gottes, und dieses Kapitel, das in der Organisation der Sachlage für uns aus praktischen Gründen das 11. Kapitel ist, ist ein wunderbares Beispiel für das, was wir soeben gesagt haben. Jedes Stück davon geht weit über das hinaus, was gesagt oder getan wird. Es ist so umfassend, so weitreichend, so voller Tiefe und Bedeutung. Ich habe nun seit über sechzig Jahren das Johannesevangelium und somit auch dieses Kapitel zum x-ten Mal gelesen, und ich habe auch schon viele Male darüber gesprochen, aber ich stehe noch immer etwas gegenüber, das mein Fassungsvermögen bei weitem übersteigt. Ich gebe euch nicht etwas weiter, das schon vorher gesagt wurde. Das ganze Evangelium verbreitet IMMER das, was zuvor noch nicht gesehen und gewusst worden ist. Nun, das heißt wiederum nicht, dass ihr das noch nie gesehen habt, was ich diesmal sagen werde, doch was ich sage ist dies, dass es da eine Fülle gibt, und dass, was immer und wie viel immer ihr gesehen haben mögt, es noch mehr gibt, was Gott den Fragmenten dieses Kapitels meint.

Wir ringen stets mit unseren Begrenzungen, sowohl was das Verstehen als auch Begreifen betrifft, und gewiss auch damit, zu äußern, was darin enthalten ist. Einige von uns sind in diesem Geschäft sehr arm, und wir wissen es. Einer meiner kleinen Enkel hörte, dass ich nach Amerika ginge und fragte daher seine Mutter: «Wozu geht Großpapa nach Amerika?» Sie antwortete: «Nun, um zu predigen». Er sagte darauf: «Um zu predigen? Aber darin ist er gar nicht so gut, oder?» Und der Großpapa stimmt dem völlig zu! So, jetzt wisst ihr, womit ihr es zu tun habt! Nun, genauso fühlen wir uns eben, wenn wir in die Gegenwart der göttlichen Statur von Gottes Worten treten. Ich denke, ihr alle realisiert etwas von der Weite dieses Kapitels, aber ich hoffe, dass wir bald ein bisschen mehr sehen, wenn auch nicht die Fülle dessen, die in diesem Abschnitt enthalten ist, den wir eben gelesen haben, und besonders im Fragment von Vers 44.

Die Aspekte des Johannesevangeliums

Nun, bevor wir dazu kommen, lasst mich noch dieses Worte sagen, das, wie ich glaube, notwendig ist und das dazu hinführt. Wir müssen die Aspekte dieses Evangeliums erkennen. Zuerst einmal ist es ein Aspekt rückwärts. Das heißt, Johannes schrieb dieses Evangelium viele Jahre nachdem das, was es enthält, geschehen war. Die ganze Sache war beendet, was die Aktualität des Inhaltes dieses Berichts betrifft, und der Herr Jesus hatte diese Erde verlassen. All das hier lag in der Vergangenheit, als Johannes es niederschrieb. Es war eine bereits vollendete Geschichte. Johannes schrieb es von diesem Standpunkt aus, also im Rückblick. Doch werdet ihr feststellen, dass das Evangelium selbst mit einem Blick nach vorne verfasst wurde. Das heißt, es wurde im Lichte des Tages geschrieben, der erst kommen wird. Jesus sagt hier wiederholt: «An jenem Tag... an jenem Tag... wenn... wenn...», und das bezieht sich stets auf den Tag der Ankunft des Heiligen Geistes. «Wenn er gekommen ist... an jenem Tag». Dieses Evangelium wurde für einen kommenden Tag geschrieben, und wir leben in diesem Tag, d.h. im Zeitalter des Heiligen Geistes. Jesus machte es vollkommen klar, dass, was er im Fleisch sagte und tat, sich auf den Tag bezog, der erst kommen werde, der Tag, an dem der Heilige Geist das gegenwärtige Heilszeitalter eröffnete. Dieses Evangelium wurde daher genau deshalb für uns aufgeschrieben, weil wir in diesem Tag leben.

Vielleicht fragt ihr: «Warum sagt er das? Es ist doch einfach und offensichtlich. Wir wissen es.» Nun, wissen wir es wirklich? Ich habe all das gesagt, damit wir erkennen, dass dieser Vers 44 uns gehört. Er wurde für uns geschrieben. An dem Tag, an dem wir leben, an diesem Heilszeits-Tag, gehört dieser Vers uns.

Ein weiteres Wort dazu. Der rückwärts gewandte Aspekt dieses Evangeliums, dass es geschrieben wurde, als alles tatsächlich in der Geschichte abgeschlossen war, war die objektive Seite, als eben alles noch äußerlich war. Alles, was Jesus tat, war äußerlich. Seine Bedeutungen wurden in äußere Dinge, Wege und Mittel verlegt. Der Tag, für den alles Objektive getan und gesagt wurde, ist der Tag des Subjektiven, wenn es aus der äußeren Geschichte geholt und zur inneren Geschichte gemacht wird, wenn es nicht mehr etwas außerhalb von uns ist, sondern etwas wird, das in unser Inneres eingepflanzt wurde. Das ist die wahre Bedeutung des Kommens des Heiligen Geistes - die Hand auf alles zu legen, was dort objektiv ist, und ist mitten ins Leben des Gläubigen hinein zu versetzen, so dass es zur Innerlichkeit des Lebens des Gläubigen wird.

Wenn wir diese nicht erkennen, werden wir unseren Weg verfehlen, wenn wir die Geschichten lesen, und einfach glauben, es handle sich um wunderbare Geschichten von dem, was Jesus tat, ganz besonders um jene von der Auferweckung dieses Mannes Lazarus von den Toten. Dies geschah und wurde aufgeschrieben, damit es zu unserer inneren Erfahrung wird, geradezu zu einem Teil unseres eigenen Wesens. Das ist die Grundlage, auf die wir alles bauen, was wir über dieses ganze Evangelium zu sagen haben.

Die Übereinstimmung des Evangeliums mit den Briefen

Darf ich ein weiteres Wort hinzufügen, das, wie ich hoffe, für euch einen gewissen Wert haben wird? Es ist im Lichte dessen, was wir gesagt haben, stets notwendig und auch wichtig, die Übereinstimmung zwischen den Briefen des Neuen Testamentes und den Evangelien in Betracht zu ziehen, weil die Briefe schließlich ja nur der subjektive Ausdruck der objektiven Evangelien sind. Wie kann ich es formulieren, um euch zu helfen? Nun, ihr lest eure Evangelien. Und wenn ihr wollt, lest dieses Kapitel. Da ist die Geschichte, der Bericht über das, was geschehen ist; alle Teile, die Phasen und die verschiedenen Stufen. Das ist äußerst wunderbar, doch wenn ihr zu den Briefen kommt, wird euch gesagt, was das alles bedeutet. Dort bekommt ihr die Erklärung für euer eigenes Leben von dem, was in den Evangelien ist. Die Evangelien werden die Geschichte vor zweitausend Jahren bleiben, solange ihr nicht dazu gelangt, zu sehen, was sie in Gottes Augen in eurem eigenen Leben sein sollten, und das findet ihr nur in den Briefen heraus. Lest die Evangelien stets auf diese doppelte Weise, und denkt daran, dass das, was in den Evangelien ist, irgendwo in den Briefen erklärt wird. Lest die Briefe, und ihr werdet sagen: «Das erklärt, was in den Evangelien steht». Lest also euer Neues Testament auf diese Weise. Wir müssen das Buch der Apostelgeschichte und die Briefe betrachten, um die wahre Bedeutung der Evangelien zu verstehen, und bevor wir den wahren inneren Wert der Evangelien gewinnen können.

Nun, nachdem wir all das gesagt haben, kommen wir zu diesem Vers (44) im elften Kapitel von Johannes: «Und der Verstorbene kam heraus, an Händen und Füßen mit Grabtüchern umwickelt und sein Angesicht mit einem Schweißtuch umhüllt. Jesus spricht zu ihm: ihn los und lasst ihn gehen!» Wisst ihr, dass ihr die breitgefächerte Fülle des Rests vom Neuen Testament (nach Johannes) habt, die exakt mit dieser Aussage übereinstimmt? Sie sagt euch, was das für uns bedeutet. Hier in diesem Kapitel findet ihr das, was es für Lazarus und seine Schwestern bedeutete, aber was bedeutete es im Sinne Gottes für uns?

Leben, aber (lauter) Begrenzungen

Zuerst einmal ist es möglich, dass wir durch das Wort von Jesus Christus Leben haben, Auferstehungsleben, göttliches Leben, das, was man ewiges Leben nennt; es ist möglich für uns, dass wir dieses Leben haben, durch welches wir vom Tod unseres natürlichen Zustandes durch das «fiat» des Sohnes Gottes in diese Neuheit des Lebens gebracht worden sind, und dennoch auf jede nur mögliche Weise eingegrenzt sind, obwohl wir es haben. Eingegrenzt im Dienst - «seine Hände gebunden»; eingegrenzt im Fortschreiten - «seine Füße gebunden»; eingegrenzt im Verständnis - «ein Schweißtuch um seinen Kopf und über seinen Augen». Diese drei Dinge sind drei der wichtigsten Dinge in der Belehrung durch die Apostel.

Lasst mich das wiederholen, denn es ist so wahr, und es trifft heute auf eine Menge von Leuten zu. Es ist eines der Probleme des Christentums, dass es, obwohl viele durch eine schlichte Antwort auf das Wort des Herrn Jesus wiedergeboren wurden und sein Volk sind, die Kinder Gottes sind und göttliches Leben haben, so leicht möglich ist - und es ist tatsächlich in zahlreichen Fällen so - was dieses Leben betrifft, in jeder möglichen Weise eingegrenzt sind, und dass das Leben selbst in ihnen so eingegrenzt wird. Hier spricht die Symbolik von gebundenen Händen, gebundenen Füßen und einem gebundenen Kopf. Die Hände sind Symbole für den Dienst oder für die Fruchtbarkeit des Lebens, und gibt es nicht in der Tat viele Christen, die an den Herrn Jesus glauben und den rettenden Glauben an ihn haben, deren Dienst und Fruchtbarkeit des Lebens aber dennoch äußerst begrenzt, gebunden und zugeknöpft ist? Oh, wie viele Christen sind doch zugeschnürt in dieser Angelegenheit echter Fruchtbarkeit, echten Dienstes - und wenn ich das Wort «Dienst» benutze, dann rede ich nicht von Plattformen oder Bibelauslegung, sondern die Austeilung des Herrn Jesus. Im nächsten Kapitel lesen wir, dass Jesus nach Bethanien zurückgekehrt ist und dass sie ihm ein Fest bereitet haben. Martha diente, und Lazarus war einer von denen, die am Essen teilnahmen. Es wäre ein blamabler Anblick gewesen bei dieser Gelegenheit, wenn Lazarus immer noch in seine Grabtücher eingewickelt gewesen wäre! Doch nein, er war in der Lage, sich mit den andern über diese Erfahrung auszutauschen, und wenn ihr glaubt, ich würde aus nichts etwas machen, dann blickt noch einmal genau hin, denn genau zu diesem Zeitpunkt beratschlagten die jüdischen Führer und beschlossen, auch Lazarus zu töten, denn wegen IHM würden viele glauben. Das ist es, was ich mit befreiten Händen, Dienst, Fruchtbarkeit meinte: «Denn seinetwegen gingen viele Juden hin und glaubten an Jesus!» (Joh. 12,11). Trifft es nicht zu, dass eine Unmenge von Christen sich nicht in dieser Freisetzung des Geistes befinden, wo viele um ihretwillen glauben? Sie bleiben isoliert, zugeschnürt, gebunden. Sie sind zwar Christen, doch bezüglich der Bedeutung der Hände der Fruchtbarkeit, des Dienstes, der Mitteilung Christi, des Zeugnisses von Jesus, sind sie noch immer in ihren Grabtüchern. Und darum sagte Jesus: «Ich bin gekommen, damit sie das leben haben», doch mehr als das, «dass sie es im Überfluss» haben. Und Lazarus hatte dieses Leben, aber nicht im Überfluss, solange er nicht losgebunden war.

Nun kommt ihr mit diesem einzigen Fragment zu den Briefen und stellt fest, wie viel dort davon die Rede ist, dass das Leben des Gläubigen ein effektives Leben sei, ein Leben voller Früchte, ein verantwortliches Leben, ein Leben, das wirklich etwas hervor bringt. Und in der Tat könnten wir sagen, einer der Hautzwecke aller Briefe, welche diese Apostel verfasst haben, der war, diese Christen von damals, die das Leben hatten, dazu zu bringen (und muss ich euch wirklich noch einmal daran erinnern, dass mehr als neunzig Prozent des Neuen Testamentes an Christen geschrieben wurde? Das ist doch beeindruckend und herausfordernd!), dass sie es noch reichlicher haben sollten, d.h. dass sie losgebunden werden sollten in dieser Angelegenheit ihrer Neuheit des Lebens.

Nun, das ist vielleicht für den Augenblick genug.

Leben, aber keinen Fortschritt

Und was für die Bedeutung der Hände gilt, gilt auch für die Füße. Lazarus war «an Händen und Füßen gebunden». Und wiederum, ist es denn nicht wahr, dass viele, viele Christen im geistlichen Leben keinen Fortschritt machen, dass sie nicht voran kommen? Ihr begegnet ihnen einmal, und dann, drei, sechs oder zehn Jahre später, sind sie immer noch genau dort, wo ihr sie zum ersten Mal angetroffen habt. Sie sind nicht weitergekommen, weil ihre Füße gebunden sind. Sie kommen nicht voran, sie machen geistlich keine Fortschritte, gewinnen keinen neuen Boden, sie holen im Lauf nicht auf, sie - um Paulus‘ Wendung zu benutzen - «erlangen» nichts. Sie befinden sich in einem Zustand geistlicher Stagnation, geistlichen Stillstandes. Ihre Füße sind gebunden, und das ist nicht Gottes Vorstellung. Jesus, der fleischgewordene Gott, sagte: « ihn los, und lasst ihn gehen. Befreit diese Füße, damit er gehen kann, damit er auf dem Weg meiner Gebote laufen kann». Das ist Gottes Vorstellung für uns. Das ist nicht einfach eine Aussage der Wahrheit, sondern eine Herausforderung an den Ort, wo wir uns befinden.

Leben, aber keine geistliche Sicht

Was aber ist mit dem Kopf, von einem Schweißtuch über die Augen und über den Mund umhüllt? Für unseren Zweck erwähnen wir im Augenblick besonders die Augen. Ist es wiederum nicht so, dass es viele aus dem Volke Gottes gibt, die nicht wirklich mehr und mehr und noch mehr sehen von dem, was er für sie und durch sie hat? Viele Christen sehen nicht weiter als bis zu ihrer Hand vor ihren Augen. Es ist eine kleine Welt, in der sie leben, sie haben einen sehr engen Horizont der geistlichen Wahrnehmung und des Verständnisses, der Wahrnehmung und geistlichen Erkenntnis. Ihre Köpfe sind eingehüllt und ihre Augen sind überdeckt. Sie haben Leben, aber das ist auch schon alles.

Nachdem wir diese Dinge gesagt haben, wollen wir, um anzuzeigen, was wir mit der großen Fülle, die hier vorhanden ist, selbst in diesem Vers, erneut einen Blick darauf werfen.

Der Grabeshauch

Lazarus kam heraus und hatte wieder Leben, aber in dem Moment, als er hervortrat, stand er noch immer in Kontakt mit dem Grab. Noch immer war etwas an ihm, das vom Grab und von den Eingrenzungen des Grabes sprach. Wiederum, worin bestehen diese Eingrenzungen? Nun, wir kommen hinüber zu den Briefen. Ich gehe nicht durch alle hindurch, aber ich möchte euch gerade genug mitgeben, um anzuzeigen, was gemeint ist.

Losbinden vom natürlichen Leben

Wenn ihr den 1. Korintherbrief aufschlagt und etwas davon wisst, worum es in diesem Brief geht, werdet ihr wissen, was wir mit dem Grabeshauch meinen, der wiedergeborenen Christen noch immer anhaften kann. Paulus beginnt diesen Brief, indem er die Korinther als «Heilige» anspricht, was bedeutet, diejenigen, die dem Herrn gehören, aber, indem er immer weiter schreibt, wird eine schreckliche Situation entfaltet, nicht wahr? Sie haben zwar Leben, aber ihr könnt nicht sagen, dass sie es im Überfluss hätten. Die Grabtücher haften noch an ihnen, das heißt, noch ist der Grabeshauch vorhanden, und im ersten Brief an die Korinther ist es der Grabeshauch der Begrenzungen durch das natürliche Leben. Sie sind Christen, das stimmt, aber sie sind durch die Bande des natürlichen Lebens gebunden und eingegrenzt. Das ist das Wort, das der Apostel besonders benutzt: «Der natürliche Mensch aber nimmt nicht an, was vom Geist Gottes ist; denn es ist ihm eine Torheit, und er kann es nicht erkennen, weil es geistlich beurteilt werden muss» (1. Kor. 2,14). Das ist Eingrenzung, nicht wahr? Ihr lest in diesem Brief weiter, und dann stellt ihr fest, dass sich diese Leute wie weltliche Menschen benehmen. In ihrem Verhalten, ihrem Benehmen, ihrem Vorgehen machen sie es exakt gleich wie weltliche Menschen. Jemand hat einem andern Gläubigen Unrecht getan - offensichtlich geschah das in mehr als einem Fall in Korinth - und als Folge davon dachte dieser Gläubige, gegen den das Unrecht begangen wurde, das sei eine kriminelle Handlung und müsse vor dem weltlichen Gerichtshof verhandelt werden. So schleppte er seinen Mitgläubigen vor den Richter eines weltlichen Gerichts, um sein Recht zu bekommen. Genau das tut die Welt, und das ist nur ein Beispiel für eine ganze Reihe von Dingen, die in Korinth vorgingen. Einige waren viel schlimmer als das. «Es gibt Trennungen unter euch, und wenn es unter euch Trennungen gibt, seid ihr da nicht fleischlich?» Nicht geistlich, sondern fleischlich.

Nun, fasst das Ganze dieses Briefes zusammen, und ihr habt eine furchtbare Geschichte von solchen, die dem Herrn gehören und Leben haben, die sich aber wie die andern Leute benehmen, die so leben, wie die Welt eben lebt. Ihr findet Frauen, die sich wie weltliche Frauen aufführten in der Art, wie sie sich kleideten, wie sie sich benahmen, wie sie wandelten, und dies sogar in der Versammlung. Ich will nicht die Frauen besonders herauspicken, sondern möchte nur anzeigen, dass der Geist der Welt unter den Gläubigen in Korinth eingezogen war, und dies (lest den Brief nochmals in diesem Lichte durch) hatte zur Folge, dass sie immer noch in dieser Knechtschaft, in dieser Begrenzung ihres geistlichen Lebens festgehalten wurden. Es sind Grabtücher, und ihr werdet nicht überrascht sein, dass die Welt in Korinth nichts vom Einfluss ihres Zeugnisses wahrnimmt, dass die Gemeinde in Korinth in der Welt nichts zählte, weil die Welt in die Gemeinde herein gekommen war, und in jedes einzelne Glied. In diesem Sinne sind sie noch in ihren Grabtüchern, wegen der Begrenzungen, die das geistliche Leben einengen, wenn das natürliche die Oberhand gewinnt und regiert, die Kontrolle ausübt und alles dirigiert. Es ist eine schreckliche geistliche Eingrenzung. Es ist Leben da, jawohl, aber kein «Leben im Überfluss». Seht ihr, was ich meine? Ihr Zeugnis ist gebunden. Es ist noch immer etwas vom Grab vorhanden, und dieser Brief an die Korinther ist in demselben Geist und mit derselben Vorstellung , Absicht und mit demselben Ziel geschrieben worden, die der Herr hatte, als er sagte: « ihn los und lasst ihn gehen». Paulus ringt darum, diese Korinther losgebunden zu bekommen, als Losgebundene, Befreite, in die Fülle des Lebens Entlassene, das sie hatten.

Losbinden von der Tradition und der Gesetzlichkeit

Wir gehen vom Korintherbrief zum Galaterbrief über, und niemand, der diesen Brief kennt, wird der Aussage widersprechen, dass wir hier sehr gründlich mit dem Grab in Berührung kommen. Ihr wisst, worum es im Galaterbrief geht, und ihr kennt die beiden vorherrschenden Wörter - Freiheit - «So steht nun fest in der Freiheit, zu der uns Christus befreit hat, und lasst euch nicht wieder in ein Joch der Knechtschaft spannen!» (Gal. 5,1) - und Sohnschaft. Nicht Dienerschaft, nicht Sklaverei, sondern Sohnschaft; die Freiheit von Söhnen. Das sind die zwei großen Worte dieses Briefes, aber welches sind die Grabbinden in Galatien? Es sind die Grabtücher der Tradition, der Gesetzlichkeit und all dieser Dinge. Ihr wisst, liebe Freunde, wie leicht es ist, mit diesen Grabtüchern gebunden zu werden. Die ständige Gefahr durch die Zeitalter des Christentums hindurch bestand darin, in etwas Festgesetztes, Fixes zu kristallisieren. Ihr habt etwas Licht, eine gewisse Offenbarung, etwas von der Immensität der Wahrheit, bloß ein Fragment davon, und es geht nicht lange, bis ihr anfangt, es in ein festes System umzuformen und es zu einer Begrenzung zu machen, indem ihr sagt, es sei das, was die Leute zu glauben hätten, sie müssten unter diesen Horizont kommen, und sie müssten sich so verhalten. Es wird wieder ein System: «Ihr sollt... ihr sollt nicht!», und es besteht kein Unterschied zwischen dem alttestamentlichen «Du sollst... du sollst nicht!». Das Christentum ist in diese Gefahr geraten, und sie fällt ständig da hinein, indem sie die große Offenbarung umschreibt (und sie damit eingrenzt), und indem es Christus kleiner macht als er ist und so die Wahrheit in etwas Fixes und Festgesetztes kristallisiert: «So wird es gemacht...», wobei das heißen soll: «Das ist Endgültige» (d.h. darüber wird nicht mehr diskutiert).

Nun, ihr stellt fest, dass, als der Geist kam, wie es im Buch der Apostelgeschichte berichtet wird, das eine, das diese alten jüdischen Jünger erfuhren, eine wunderbare Emanzipation aus der Knechtschaft des Judaismus war; und wie der Heilige Geist auf der ganzen Linie gegen irgend welche fixen Barrieren kämpfte. Petrus argumentierte, er sei ein Jude, geboren, auferzogen, waschecht, und nie sei etwas Unreines in SEINEN Mund gekommen, genau 3. Mose 11 gemäß. «Schon gut, Petrus. Du stülpst einfach deine Interpretation der Schrift über, und du setzt dem, was Christus an seinem Kreuz getan hat, Grenzen», und wo wurde ihm gesagt: «Was Gott gereinigt hat, das halte du nicht für gemein!» (Apg. 10,15). Der Heilige Geist reagierte auf Petrus‘ Traditionalismus, Gesetzlichkeit, Begrenzung und Knechtschaft, und ließ ihn gehen und tun, was er sonst niemals getan hätte. Wieder und wieder, bis zu seinem Tod, wurden die Worte des Herrn Jesus an ihn im letzten Kapitel dieses Evangeliums wahr: «Als du jünger warst, gürtetest du dich selbst und gingst, wohin du wolltest; wenn du aber alt geworden bist, wirst du deine Hände ausstrecken, und ein anderer wird dich gürten und führen, wohin du nicht willst» (Joh. 21,18). Dieses Prinzip wurde auf Kornelius und sein Haus angewandt, und auf Cäsarea und die Heiden. Er wurde dazu veranlasst, an Orte zu gehen, wo er nicht hin wollte. Er sagte: «Nein, Herr», und der Herr sagte: «Ja, Petrus». «Wohin du nicht willst» ist die Reaktion des Himmels auf diese gesetzliche Begrenzung, auf diese Grabtücher an einem Apostel. Das war nicht der einzige Kampf, den Petrus auszufechten hatte, aber wir wollen uns nicht dabei aufhalten.

Dann sagt Johannes, als der Herr Jesus jene Worte zu Petrus sagte, habe er angedeutet, «durch welchen Tod er Gott VERHERRLICHEN sollte». Jahre später schrieb Petrus: «da ich weiß, dass ich mein Zelt bald ablegen werde, so wie es mir auch unser Herr Jesus eröffnet hat» (2. Petr. 1,14). Wir kennen die Art seines Todes nicht, doch die Tradition sagt, Petrus sei gekreuzigt worden. Nur Juden konnten von heiden gekreuzigt werden, denn die Heiden wagten nicht einen der ihren zu kreuzigen. So ging Petrus diesen Weg; doch weil Paulus das römische Bürgerrecht besaß, konnten sie ihn nicht kreuzigen, sondern enthaupteten ihn. Petrus wurde für die selbe Todesart ausgewählt wie sein Herr, und er wusste es, denn er sagte: «Wie es mir unser Herr Jesus eröffnet hat». Er wurde tatsächlich von einem andern gegürtet und auf einem Weg fortgetragen, den zu gehen er nicht gewählt hätte; aber der Weg des Geistes ist der Weg, der gegen unsere Begrenzungen, unsere Grabtücher angeht, und er nimmt uns auf Wege mit, an die wir nie gedacht hätten. In der Tat, unsere Theologie würde diesen Weg nicht akzeptieren, unsere Lehre würde dem entgegenstehen, unsere Tradition würde es verbieten, doch der Heilige Geist sagt: «Das ist der Weg. ihn los und lasst ihn gehen». Das ist der Galaterbrief, nicht wahr? Ich sagte, wir benötigten die Briefe, um die Evangelien zu erklären, und schon nur ein Vers im Johannesevange- lium enthält dies alles!

Losbinden zu voller, geistlicher Erkenntnis

Ich schließe mit einem weiteren Punkt. Werft einen Blick in den Epheserbrief, und ihr werdet, nachdem ihr durch das Losbinden der Hände in Korinth, und das Losbinden der Füße in Galatien gegangen seid, um im Geist zu wandeln und in der Freiheit zu stehen, zum Haupt geführt. Im Epheserbrief nimmt der Herr das Schweißtuch vom Kopf, und das gründlich. Der Epheserbrief hat mit dem Schweißtuch um den Kopf herum zu tun. Was meinen wir damit? Nun, kaum hat Paulus mit dem Brief begonnen, sagt er bereits: «Ich beuge meine Knie vor dem Vater der Herrlichkeit, dass er euch, den Christen in Ephesus, die Gnade gewähren möge, dass euch der ganze Ratschluss Gottes mitgeteilt werde, dass er euch einen Geist der Weisheit und Offenbarung schenke in der Erkenntnis seiner selbst, Christus; er erleuchte die Augen eures Herzens, damit ihr wisst, welches die Hoffnung eurer Berufung, der Reichtum seines Erbes in den Heiligen, und die überragende Größe seiner Kraft an uns, den Gläubigen». «Damit ihr WISST ... die Augen eures Herzens erleuchtet» - da haben wir das Schweißtuch vom Kopf entfernt! Dieser Epheserbrief ist eine wunderbare Offenbarung dessen, dass die Augen unseres Herzens enthüllt, losgebunden werden, so dass wir die Größe unserer Berufung und unserer Bestimmung erkennen, was die Immensität dessen betrifft, wozu wir in Verbindung mit seinem Sohn gebracht wurden. Wie groß ist das! Jenseits von allem Begreifen, liebe Freunde! Glaubt mir, es ist keine Übertreibung, und Paulus sagt auch: «damit ihr WISST».

Es gibt eine kleine Vorsilbe, die in unserer Übersetzung fehlt, die aber der Schlüssel zum Ganzen ist. Der Apostel sagt: «Damit ihr wisst... damit ihr wisst», und im Neuen Testament wird uns dieses Wort zum Teil und im Ganzen gegeben. Wie gesagt, kommt dies in unserer Übersetzung nicht zum Ausdruck, doch es handelt sich ganz einfach darum: Das gewöhnliche «Wissen» an sich wird für unsere Anfangserkenntnis des Herrn gebraucht. Um Johannes noch einmal zu zitieren: «Das ist aber das ewige Leben, dass sie dich, den allein wahren Gott, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen» (Joh. 17,3). Das ist der Eingang ins Leben, der Empfang des göttlichen Lebens, doch wenn Paulus hier vom «Wissen» spricht, benutzt er ein zusammengesetztes Wort, das wir in unserer Übersetzung nicht finden. Es lautet «epignosis», «VOLLE Erkenntnis». «Ihr wisst», sagt er zu diesen Ephesern, «dass ich in der Zeitspanne von zwei Jahren nicht aufgehört habe, euch den ganzen Ratschluss Gottes zu verkündigen». Das wussten sie, und aufgrund dieses anfänglichen Wissens sind sie zum Glauben an den Herrn gelangt, nun aber bittet er, am Ende seines Lebens, aus diesem Gefängnis heraus: «damit ihr zur vollen Erkenntnis gelangt». Es ist mehr als Leben; es ist Leben im Überfluss. Es ist mehr als Sehen; es ist ein Sehen mit einer großen Reichweite göttlichen Vorsatzes und Bedeutung für unsere Berufung und dafür, wozu wir Leben empfangen haben.

Wollt ihr mir etwas sagen, alle Christen seien so? Gibt es nicht viele, deren Köpfe von einem Schweißtuch eingehüllt sind, das ihr geistliches Sehvermögen verdunkelt, ihre geistliche Sicht eingrenzt, und den Bereich ihrer Wahrnehmung des großen Vorsatzes ihrer Berufung einengt? Wahre Offenbarung, liebe Freunde, besteht nicht aus bloßer Information. Es ist Befreiung. Völlig zu sehen, und noch völliger zu erkennen, bedeutet, befreit zu werden.

Wir haben oft von diesem Mann, Paulus, gesagt, es gäbe nichts auf Erden oder in der Hölle, oder in einer Kombination von beiden, das den rasenden, fanatischen Pharisäer zum größten Freund hätte verwandeln können, den Jesus Christus je hatte, es sei denn Licht vom Himmel. Nichts hätte das zustande gebracht - doch das Licht vom Himmel schaffte es. Das Schweißtuch wurde weggenommen, und der Mann wurde befreit, in der Größe von Jesus Christus auf und ab zu wandeln.

Ich denke, wir können nun erkennen, dass dieser eine Vers im Johannesevangelium die ganze Bibel enthält. Ist es nicht so, dass Gottes Absicht für den Menschen, Gottes Gedanke für sein Volk, ist: « ihn los. Er hat Leben empfangen, aber ihn los und lasst ihn gehen!»? «Ich bin gekommen, damit sie Leben haben, und damit sie es im Überfluss haben».


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